Die Edda Anmerkungen (Simrock 1876)

29. Das erste Gudrunenlied.

„Das erste Lied von Gudrun,“ sagt Wilh. Grimm, „beschreibt die Unglückliche, die auf keinen Trost der umgebenden Frauen hörend, unbeweglich da sitzt bis bei dem Anblick der Leiche ihr Schmerz sich in Thränen löst. Das ganze Lied, für die Geschichte überflüßig, verweilt bloß bei einem rührenden Augenblicke, auch weiß weder die Wölsungasage noch die Snorraedda etwas davon.“ Darauf führt er aus, wie neue in keinem andern Liede berührte Verwandtschaftsverhältnisse darin berichtet werden, worin nur angenommene, der Sage nicht zugehörige Erweiterungen zu sehen seien. Schon diese laßen auf eine verhältnissmäßig späte Entstehung des Liedes schließen, die aus seiner elegischen Weichheit nicht mit Sicherheit zu folgern ist, da Gudrun überhaupt weiblicher und milder erscheint als Brynhild. Allerdings ist das zweite Gudrunenlied, das oben am Schluß des s. g. Bruchstücks von Brynhild das alte Lied von Gudrun hieß, kräftiger gehalten; dieß liegt aber auch mit an der Situation, da Gudrun, wie der Schluß zeigt, hier schon auf Rache für ihre Brüder sinnt. Was Uns gegen das vorliegende Lied einnimmt, ist das ungünstige Licht, in welches Brynhild Str. 21 gestellt wird, namentlich aber Str. 25 und 26, zu welchen gerade die schlechteste, jedenfalls der Überarbeitung angehörige Stelle des dritten Sigurdsliedes (Str. 37–39) Veranlaßung gegeben hat. Wie dort Brynhild von sich selber angiebt, daß sie auf Atlis Andringen, der ihr, wenn sie unvermählt bliebe, das Vatererbe vorenthalten wollte, Gunnarn die Hand gereicht habe, so wird hier dem Atli die Schuld an allem Unheil beigelegt, und der Tag verwünscht, wo sie des „Wurmbetts Feuer“ an dem Fürsten ersahen. Man darf bei diesem Ausdruck, der allerdings zunächst an Sigurd gemahnt, doch dem Zusammenhange nach nur an Gunnar denken. Wie nach D. 62 das Gold Oturs Buße, der Asen Nothgeld und fernerhin Fafnirs Bette u. s. w. hieß, so ist auch des Wurmbetts Feuer nur eine allgemeine dichterische Benennung des Goldes geworden, die weiter nichts mehr mit Gudrun zu schaffen hat. Vgl. Oddruns Klage Str. 33. Also des Goldes Willen nahm Brynhild den Gunnar; diese Ansicht kann nur die bezeichnete Quelle haben, obgleich dort Brynhild nur um ihr Vatergut nicht zu verlieren, einwilligte, hier aber gar durch den Reichtum des Freiers bestimmt wird. Setzt aber unsere Stelle jene andere des dritten Sigurdsliedes voraus, so ist unser Lied erst nach der Überarbeitung, welches jene erlitt, entstanden und gehört mithin einer ziemlich jungen Zeit an. Damit stimmt nun auch alles Übrige, jene Erweiterungen der Sage, die auffallende Weichheit des Tons und der Umstand, daß nicht dieses, sondern das andere Gudrunenlied als das alte bezeichnet wird.

Noch sonst berührt sich unser Lied mit dem dritten von Sigurd, denn wenn es dort Str. 29 heißt, Gudrun habe bei Sigurds Tode die Hände so stark zusammengeschlagen, daß die Gänse auf dem Hofe geschrieen hätten, so sagt hier zwar die erste Strophe, sie habe nicht geschluchzt noch die Hände geschlagen, wie der Frauen Brauch sei, was aus Str. 11 des andern Gudrunenlieds genommen sein mag; aber hernach jammert sie doch Str. 16 beim Anblick der Leiche so sehr, daß die Gänse im Hof hell aufschrieen. Aus dem andern Gudrunenlied hat unseres noch einmal geschöpft: Str. 18 scheint eine Paraphrase der dortigen zweiten, welcher wiederum Str. 36 des dritten Helgiliedes zum Vorbild gedient haben wird.

Was die prosaische Einleitung erwähnt, Gudrun habe etwas von Fafnirs Herzen gegeßen und seitdem der Vögel Stimmen verstanden, wird sonst nirgend gemeldet; vergl. unten. Im Übrigen giebt sie nur die beiden ersten Strophen wieder; der Schlußsatz ist hingegen theils aus dem dritten Sigurdsliede, theils aus Str. 13 des alten Gudrunenliedes genommen.

30. Mord der Niflunge.

Auch dieser prosaische Zwischenbericht könnte wie der erste von Sinfiötli dem Sammler unserer Heldenlieder gehören. Nur daß es der Ring Andwaranaut war, welchen Gudrun ihren Brüdern zur Warnung schickte, daß Högni von Kostbera noch einen dritten Sohn, Namens Giuki, hatte, und daß Gudrun ihre Söhne aufgefordert, der Giukungen Leben zu erbitten, was diese verweigert hätten, kann aus den Liedern, wie sie uns vorliegen, nicht geschöpft sein. Sonst scheinen alle folgenden Lieder mit Ausnahme des dritten von Gudrun und der beiden letzten von ihrer dritten Vermählung, die doch schon das dritte Sigurdslied kennt, benutzt. Den prosaischen Eingang des folgenden Liedes zog ich früher zu unserm Zwischenbericht und schloß dann weiter, daß dem Verfaßer desselben auch das dritte Gudrunenlied bekannt gewesen sei, indem er aus ihm (Str. 5) die Nachricht über Dietrichs Aufenthalt bei Atli und den Verlust seiner Mannen entliehen habe. Dann müste aber auch die weitere Meldung jenes Eingangs, daß Dietrich und Gudrun einander ihr Leid geklagt hätten, aus dem dritten Gudrunliede entnommen sein, und die Klage der Gudrun im zweiten „alten“ Gudrunliede schwebte in der Luft, sie wär an Niemand gerichtet, man begriffe nicht, was ihr die Zunge löste, während doch der Dichter des ersten Gudrunenliedes sich so viel Mühe giebt, die Klage der vor Leid Verstummenden einzuleiten. Ich nehme daher jetzt mit Müllenhoff Zeitschr. X. 172 an, daß in jenen einleitenden Worten auch das zweite, alte Gudrunenlied in derselben Weise wie das dritte die Anwesenheit Dietrichs an Etzels Hofe voraussetzte. „Wem sonst sollte die arme freundberaubte Gudrunklagen, als ihm dem gleichfalls elenden freundlosen Manne?“ Vgl. Hildebrandslied Z. 23.