Loddfafnis Lied – Die Edda, Hâvamâl

Loddfafnis LiedLoddfafnis Lied ist Teil der Hâvamâl, „Des Hohen Lied“, dessen Vers 111 die Lehren an Loddfafnir einleitet.

Loddfafnis-Lied.

111

Zeit ists zu reden vom Rednerstuhl.
An dem Brunnen Urdas
Saß ich und schwieg, saß ich und dachte
Und merkte der Männer Reden.

112

Von Runen hört ich reden und vom Ritzen der Schrift
Und vernahm auch nütze Lehren.
Bei des Hohen Halle, in des Hohen Halle
Hört ich sagen so:

113

Dieß rath ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Steh Nachts nicht auf, wenn die Noth nicht drängt,
Du wärst denn zum Wächter geordnet.

114

Das rath ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
In der Zauberfrau Schooß schlaf du nicht,
So daß ihre Glieder dich gürten.

115

Sie bethört dich so, du entsinnst dich nicht mehr
Des Gerichts und der Rede der Fürsten,
Gedenkst nicht des Mals noch männlicher Freuden,
Sorgenvoll suchst du dein Lager.

116

Das rath ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Des Andern Frau verführe du nicht
Zu heimlicher Zwiesprach.

117

Das rath ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Über Furten und Felsen so du zu fahren hast,
So sorge für reichliche Speise.

118

Dem übeln Mann eröffne nicht
Was dir Widriges widerfährt:
Von argem Mann erntest du nimmer doch
So guten Vertrauns Vergeltung.

119

Verderben stiften einem Degen sah ich
Übeln Weibes Wort:
Die giftige Zunge gab ihm den Tod,
Nicht seine Schuld.

120

Gewannst du den Freund, dem du wohl vertraust,
So besuch ihn nicht selten,
Denn Strauchwerk grünt und hohes Gras
Auf dem Weg, den Niemand wandelt.

121

Das rath ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Guten Freund gewinne dir zu erfreuender Zwiesprach;
Heilspruch lerne so lange du lebst.

122

Altem Freunde sollst du der erste
Den Bund nicht brechen.
Das Herz frißt dir Sorge, magst du keinem mehr sagen
Deine Gedanken all.

123

Das rath ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Mit ungesalznem Narren sollst du
Nicht Worte wechseln.

124

Von albernem Mann magst du niemals
Guten Lohn erlangen.
Nur der Wackere mag dir erwerben
Guten Leumund durch sein Lob.

125

Das ist Seelentausch, sagt Einer getreulich
Dem Andern Alles was er denkt.
Nichts ist übler als unstät sein:
Der ist kein Freund, der zu Gefallen spricht.

126

Das rath ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Drei Worte nicht sollst du mit dem Schlechtern wechseln:
Oft unterliegt der Gute,
Der mit dem Schlechten streitet.

127

Schuhe nicht sollst du noch Schäfte machen
Für Andre als für dich:
Sitzt der Schuh nicht, ist krumm der Schaft,
Wünscht man dir alles Übel.

128

Das rath ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Wo Noth du findest, deren nimm dich an;
Doch gieb dem Feind nicht Frieden.

129

Das rath ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Dich soll Andrer Unglück nicht freuen;
Ihren Vortheil laß dir gefallen.

130

Das rath ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Nicht aufschaun sollst du im Schlachtgetöse:
Ebern ähnlich wurden oft Erdenkinder;
So aber zwingt dich kein Zauber.

131

Willst du ein gutes Weib zu deinem Willen bereden
Und Freude bei ihr finden,
So verheiß ihr Holdes und halt es treulich:
Des Guten wird die Maid nicht müde.

132

Sei vorsichtig, doch seis nicht allzusehr,
Am meisten seis beim Meth
Und bei des Andern Weib; auch wahre dich
Zum dritten vor der Diebe List.

133

Mit Schimpf und Hohn verspotte nicht
Den Fremden noch den Fahrenden.
Selten weiß der zu Hause sitzt
Wie edel ist, der einkehrt.

134

Laster und Tugenden liegen den Menschen
In der Brust beieinander.
Kein Mensch ist so gut, daß nichts ihm mangle,
Noch so böse, daß er zu nichts nützt.

135

Haarlosen Redner verhöhne nicht:
Oft ist gut was der Greis spricht.
Aus welker Haut kommt oft weißer Rath;
Hängt ihm die Hülle gleich,
Schrinden ihn auch Schrammen,
Der unter Wichten wankt.

136

Das rath ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst.
Den Wandrer fahr nicht an, noch weis ihm die Thür:
Gieb dem Gehrenden gern.

137

Stark wär der Riegel, der sich rücken sollte
Allen aufzuthun.
Gieb einen Scherf; dieß Geschlecht sonst wünscht
Dir alles Unheil an.

138

Dieß rath ich, Loddfafnir, vernimm die Lehre,
Wohl dir, wenn du sie merkst:
Wo Äl getrunken wird, ruf die Erdkraft an:
Erde trinkt und wird nicht trunken.
Feuer hebt Krankheit, Eiche Verhärtung,
Ähre Vergiftung,
Der Hausgeist häuslichen Hader.
Mond mindert Tobsucht,
Hundbiß heilt Hundshaar,
Rune Beredung;
Die Erde nehme Naß auf.

 


 
 
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Bild „Loddfafnis Lied“: Die drei Jungfrauen an der Quelle des Schicksals, Zeichnung von Ludwig Pietsch, 1865. © (PD)