Die Edda Erläuterungen (Simrock 1876)

Die Edda ErläuterungenDie Edda Erläuterungen / Einleitung (Simrock 1876).

Einleitung

Daß die Götter des Nordens auch die unsern waren, daß beide Bruderstämme, der deutsche und nordische, wie Sprache, Recht und Sitte, so auch den Glauben im Wesentlichen gemein hatten, daß Odhin Wuotan ist und Thôr Donar, daß Asen und Ansen, Alfen und Elben, Sigurd und Siegfried nur andere Formen derselben mythischen Namen sind, darüber bleibt uns längst kein Zweifel. Wie kommt es denn, daß wir gegen die nordische Mythologie noch immer so gleichgültig thun als ob sie uns von Haut und Haar nichts anginge?

Möglich, daß wir eben darum von den nordischen Göttern nichts wißen und wißen wollen, weil sie die unsrigen sind, denn freilich ist das nur allzusehr deutscher Charakter, überall in der Welt, in Rom und Griechenland, in England und Spanien, in Arabien, Indien und China jeden Winkel zu durchstöbern, sich in jede Sackgaße zu verrennen und dabei im eigenen Hause wie die Blinden umherzutappen.

Hätte der Einleiter vielleicht gar klüger gethan, die Einheit der nordischen und deutschen Götter den Lesern zu verschweigen? Griffen sie lieber auch nach dieser Waare, wenn sie als ausländische dargeboten würde? Es ist freilich nicht unerhört, daß ein deutscher Dichter sein Werk, um es zu empfehlen, für Übersetzung aus dem Englischen oder Schwedischen ausgab. Und die Erscheinung, daß der mattherzige Ossian bei uns so viel Glück gemacht hat, während die lebensvollen Gestalten des Nordens und alle Kraft und Tiefe der Edda verschmäht wurden, wie läßt sie sich anders erklären als aus der schon von Klopstock beklagten Undeutschheit der Deutschen? Sollten wir das mit den Juden des alten Bundes gemein haben, daß wir vor allen Götzen des Auslandes niedersinken und die heimischen Altäre unbekränzt laßen? Wenn uns dann nur nicht der Fluch dieses unseligen Volkes trifft, in alle Welt zerstreut zu werden und des Vaterlandes verlustig zu gehen! Ein Looß, das neuerdings auch ein edles europäisches Volk betroffen hat wegen eines andern Erbfehlers, der uns leider gleichfalls anhaftet, der Uneinigkeit. Dann wär unser Schicksal beklagenswerther als selbst der Juden und Polen, denn jene erhält in der Verbannung ihre angeborne Zähigkeit, diese die Vaterlandsliebe; die Deutschen aber, die sich beider Tugenden weniger zu rühmen haben, würden ganz aus der Reihe der Völker gestrichen und selbst ihre letzte Spur verweht werden.

Doch so trüben Ahnungen dürfen wir uns nicht überlaßen. Das deutsche Reich hat zwar schon seit dem Untergange der Hohenstaufen nur noch ein Scheinleben fortgeführt, und die neuen Staatenbildungen, die auf seinen Trümmern erwuchsen, haben uns einander immer mehr entfremdet. Ein Gemeinschaftliches war uns geblieben: die Sprache und die Literatur. Diesen verdanken wir es, wenn sich neuerdings unser Volk wieder als ein deutsches zu empfinden begann und die zerstückten Glieder des Reichs allmählich wieder zusammenwuchsen. In ihnen sahen wir bis 1866 den einzigen Trost, die letzte Hoffnung unseres Volkes. Aber die Sprache wird mit Fremdwörtern überfüllt, die Literatur von Übersetzungen aus allen Nachbarzungen bei Seite gedrängt: wär es zu verwundern, wenn der deutsche Sinn zuletzt den Einflüßen des Auslands erläge? Ihn und das vaterländische Bewustsein zu nähren und zu stärken, ist darum unsere nächste Pflicht und dieß können wir nur durch Wiederbelebung unserer alten Sage und Dichtung. Dieß theuerste Vermächtniss unserer Väter müßen wir der hereinbrechenden Flut sittenloser Erzeugnisse des modernen Auslands als nationalen Hort entgegenstellen, um die Wiederkehr eines patriotischen Selbstgefühls in unser Volksbewustsein anzubahnen. Der gewaltige Aufschwung, welchen die Erforschung unserer heimischen Altertümer in den letzten dreißig Jahren genommen hat, läßt hoffen, daß es damit noch nicht zu spät sei. Aber mit Erforschung unsrer Alterthümer ist es nicht schon gethan, sie wollen Neuerthümer werden, das Erbe der Väter will zum Nutzen der Enkel verwandt sein, die versunkenen, endlich erlösten Schätze unserer Vorzeit dürfen keiner zweiten Verwünschung anheimfallen: wir müßen sie ummünzen oder doch vom Rost befreit von Neuem in Umlauf setzen; den vaterländischen Göttern genügt es nicht, wenn ihre Bildsäulen in Museen aufgestellt werden, sie wollen in unsern Herzen ihre Auferstehung feiern.

Die Erkenntniss des deutschen Altertums nach allen Richtungen hin ist von zweien Brüdern wesentlich gefördert und mit Hülfe hochverdienter Mitstrebenden und Jünger zu der gegenwärtigen Blüte gebracht worden. Der Dank des Vaterlands wird ihnen nicht entgehen; ihr Name, der schon jetzt in unvergänglichem Ruhme stralt, braucht hier nicht genannt zu werden.

In diesem Gefühle hab ich mich seit funfzig Jahren der Wiederbelebung unserer alten Dichtung und Sage gewidmet. Was ich auf diesem Felde zu leisten bemüht war, will ich hier nicht erwähnen. Hat es bei der Nation die Aufnahme nicht gefunden, die ich mir versprach, so liegt dieß vielleicht an ihren schweren Schicksalen, die eine höhere Hand zum Beßern lenke. Doch auch so gereichen mir meine Erfolge zur Ermuthigung und ein viel mächtigerer Antrieb ist die Überzeugung, den rechten Weg eingeschlagen zu haben.

Eine Übersetzung beider Edden besaßen wir bisher noch nicht. Von der ältern waren uns nur einzelne Lieder zugänglich gemacht, weniger unvollständig lag die jüngere vor. Selbst in Schweden und Dänemark giebt es kein Buch, das die ältere und jüngere Edda umfaßte, wie sie in dem gegenwärtigen zu gegenseitiger Erläuterung zusammengestellt sind. Durch Vereinigung beider bildet es gleichsam die nordische Bibel, und somit auch die unsrige, da der Glaube der Nordmänner im Wesentlichen mit dem deutschen übereinstimmt.

In Deutschland war der Eifer der christlichen Priester leider mit zu großem Erfolge bemüht, das Heidentum bis auf die letzten Spuren zu tilgen. Von der eigenthümlich deutschen Gestalt des germanischen Glaubens sind uns fast nur Andeutungen erhalten. Am meisten ist der Verlust unserer heidnischen Götter- und Heldengesänge zu beklagen, welche den lebendigsten Ausdruck der ursprünglich deutschen Weltanschauung enthalten haben müßen. Ein glücklicherer Stern hat im Norden über dem Glauben unserer Väter gewaltet. In Island, dem abgelegensten Winkel der Erde, blieb er gleich den Gluten des Hekla unter Schnee und Eis der Gletscher geborgen. Wollen die Deutschen nun die ihrem Geiste eingeborenen und noch einwohnenden Götter verehren, wollen sie den Geist ihrer ältesten Geschichte zu sich sprechen laßen, so müßen sie nach diesem äußersten Thule wandern, und die Früchte kosten, die unter dem starrsten aller Himmel gereift sind.

Als um das Ende des zehnten Jahrhunderts auch in Island das Christentum eingeführt wurde, blieb es durch seine Armut und Entlegenheit vor der Überhandnahme des ausländischen Geistes bewahrt. Nach dem fernen kalten Eilande lockte fremde Geistliche kein Anreiz. Seine Priester waren Eingeborene, zwar auch im Auslande in der neuen Glaubenslehre und der Kunst des Schreibens unterrichtet, doch der Liebe zu ihrem einsamen Vaterlande, seiner Sprache, seinen Sitten und Eigentümlichkeiten nicht entwöhnt. Während daher in Deutschland der Glaubenseifer der christlichen Priester und Mönche alle einheimische, mit dem Heidentum verwachsene Bildung auszutilgen beflißen war, wurden Islands Geistliche die Pfleger der volksthümlichen Sprache, Sitte und Überlieferung, ja durch die im Ausland erlernte Schreibekunst erst die Gründer der altnordischen Literatur. Die Runenschrift war von sehr eingeschränktem Gebrauch gewesen; nun aber empfingen sie das lateinische Alphabet, in das nur einzelne Runenzeichen zur Bezeichnung eigenthümlich nordischer Laute Aufnahme fanden. Bald wurden auch auf Island selbst Schulen gegründet, die älteste zu Skalholt von Isleif dem ersten Bischof Islands. Eine andere stiftete der berühmte Sämund Sigfusson, wegen seiner Gelehrsamkeit hinn frôdi genannt (geb. 1056 † 1133) auf seinem Erbgute zu Oddi, wo auch Snorri Sturlason (geb. 1178 † 1241) der Verfaßer der Heimskringla, des großen nordischen Geschichtswerks, seine erste Bildung empfing.

Dem Sämund wird die Sammlung der Eddalieder zugeschrieben, den Snorri hält man für den Verfaßer der jüngern Edda, letzteres wohl mit Unrecht, ersteres wenigstens ohne Beweis; doch mag damit die frühe Entstehung dieser Sammlung richtig bezeichnet sein. Was hätte der Isländer, sobald ihm die Schreibekunst überliefert war, aufzuzeichnen sich mehr beeilen sollen als diese herlichen Lieder, das Kostbarste, womit ihn die Heimat ausgesteuert hatte? Nächst diesen brachte er nichts aus Norwegen herüber, das durch die Schrift zu feßeln ihm so angelegen sein muste als seine Göttersagen, und damit wird er schwerlich bis zu Snorris Zeit gewartet haben. Doch wir wenden uns einer nähern Betrachtung beider Werke zu.