Interpretation von Odins Runenlied – Rúnatal þáttr Óðinn

Odins RunenliedOdins Runenlied ist Teil des Hâvamâl, „Des Hohen Lied“, dem sechsten der Götterlieder der älteren Edda.

Des Hohen (Odins) Lied, gesungen in des Hohen Halle (Walhall) ist für die Erdensöhne (Menschen) gesungen worden. Odin fordert uns auf, die Kraft der Runen zu nutzen.

Die letzten drei Zeilen aus Odins Runenlied werden unter einigen Runern mindestens seit der Zeit um 1650 so interpretiert, dass die Beziehung, in der eine Rune steht (Hagel, Not, Naturgewalt) nie das Wesen einer Rune ausmacht. Runen sind nicht gut oder böse, positiv oder negativ. Runen sind einfach und wenn ihre Kraft nicht vorsätzlich missbraucht wird, werden sie uns niemals schaden.

Kampfmagie

Achtzehn Strophen (147-164) dieses Liedes enthalten mehr oder weniger verschlüsselte Hinweise auf die Verwendungsmöglichkeiten der Runen. Vieles in Odins Runenlied bezieht sich naturgemäß auf den Kampf. Manches kann wörtlich genommen werden, manches sollte im Kontext gesehen und interpretiert werden. Grundsätzlich jedoch ist die Kampfmagie (nicht zu verwechseln mit den Kampfrunen!) etwas, dass von einem erfahrenen Runer im persönlichen Kontakt mit einem Schüler gelehrt werden sollte. Die Gefahr, sich selbst oder anderen zu schaden ist in diesem Bereich definitiv gegeben. Dies betrifft die Strophen 149, 150, 151, 152, 157 und 159. Runenritzungen auf Lanzen- und Speerspitzen bezeugen den Einsatz von Kampfmagie durch Namen wie ranja (Angreifer) oder raunijaR (Herausforderer).

Talismane und Amulette

In Strophe 147 geht es um Talismane im weitesten Sinne, die Beilegung von Streitigkeiten und das Abwenden von allen Sorgen.

Beispiele: Fehu als Talisman für materielles Wohlergehen und gesellschaftliches Ansehen. Gebo für die Zusammenführung und Harmonisierung von Gegensätzen. Wunjo zur Harmonisierung verschiedener Ebenen des Seins und Talisman zur Stärkung des Zusammengehörigkeitsgefühls in einer Gemeinschaft. Nauthiz als Talisman wendet Unheil (Not) ab und stärkt uns im Widerstand dagegen.

Runenheilung

Der sehr umfangreiche Bereich der Heilung mit und durch Runen wird nur sehr kurz in den zwei Zeilen von Strophe 148 angesprochen. Ein runischer Heiler nutzt alle 24 Runen und viele Kombinationen und Binderunen für seine Arbeit. Ein schönes Beispiel für häufige Missverständnisse dabei ist die Rune Nauthiz (Not). Wegen ihrer Beziehung zum Thema Not wird Nauthiz oft als „negative“ oder „schlechte“ Rune verstanden. Tatsächlich bedeutet dies jedoch, dass sie besonders gut gegen Not (-situationen) eingesetzt werden kann. Runische Heiler nutzen in erster Linie Nauthiz, wenn es um die Stärkung von Abwehrkräften und die Unterstützung des Immunsystems geht.

Es ist viel darüber spekuliert worden, warum die Runenheilung in Odins Runenlied nicht umfangreicher behandelt wird. Ursprünglich war Heilen ein Bestandteil der Arbeit der Seidrfrauen und -männer. Die spezialisierten runischen Heilerinnen und Heiler kennen wir so erst seit dem Ende des 18. Jahrhunderts.

Die rituelle Runenweihe in Odins Runenlied

Ab Strophe 153 beginnt ein Bezug auf die Zeile „Weißt du wie man senden, weißt wie man tilgen soll?“ am Anfang von Odins Runenlied. Senden im Sinne von Aktivieren einer Rune beginnt mit der Feuerweihe. Dies setzt sich in der folgenden Strophe fort, wo es vordergründig anscheinend um die Beilegung von Streitigkeiten zwischen Helden geht. Warum aber sollte das für alle nützlich und nötig sein? Es geht wohl eher darum, dass wir alle, Asen, Wanen, Alben und Menschen miteinander und mit der Natur ebenso wie mit der Magie verbunden sind. Diese Verbindung kann auch als erdverbunden bezeichnet werden. Die Erdweihe ist der zweite Schritt bei der Runenweihe. Der dritte und letzte Schritt der Runenweihe wird dann in Strophe 155 angesprochen.

Es geht bei der Runenweihe nicht darum, die Runen mit den Elementen Feuer, Erde und Wasser zu verbinden. Vielmehr stehen die Feuer und Wasser für die Urgewalten in Ginnungagap (Kluft der Klüfte). Das aus Niflheim eindringende Eis (Wasser) schmolz in der aus Muspellsheim vordringenden Glut (Feuer). In diesem Schmelztiegel entstanden der Riese Ymir und die Urkuh Audhumbla. Die Brüder Odin, Vili und Ve töteten Ymir und formten aus seinen Bestandteilen die Welt (Erde). Die Runenweihe symbolisiert diesen Vorgang und verbindet die Runen mit den Kräften, die das Universum erschaffen haben. Die Runen selbst stehen dabei für jene Kräfte, die den Zusammenhalt und das Fortbestehen des Universums sicherstellen.

Seelenreise und Ahnen

Beim Thema Kontaktaufnahme zu unseren Ahnen in Strophe 158 scheint es kaum ein Zufall zu sein, dass ein Gehängter dabei erwähnt wird. Das Hängen als Todesstrafe steht auch symbolisch für das Selbstopfer Odins. Weiterhin für eine – wenn auch erzwungene – Reinigung von den Vergehen, die die Strafe erforderlich machten. Odin beschreibt uns damit die Ahnen als Wesen reinen Geistes.

Verbindung zu den Göttern

Neben Odin sind es einige Asen und Wanen, die für Runer eine besondere Bedeutung haben, worauf sich die Strophe 160 bezieht. Die Asin Eir ist es, die den runischen Heilern beisteht, den runischen Kriegern hilft der Ase Tyr und der Ase Hönir begleitet die runischen Schamanen. Eine besondere Rolle kommt der Wanin Freyja zu. Sie ist die Göttin der Völven. Da sie auch die Anführerin der Walküren ist, die als Lehrerinnen der Menschenkinder tätig sind, hat sie ebenso wie Odin besondere Achtung und den Respekt eines jeden Runers verdient.

Hroptatyr ist einer der vielen Beinamen Odins. In Strophe 161 fordert er für sich die Weisheit und zeigt uns damit den Weg für eine erfolgreiche Runenarbeit. Erkenntnisgewinn durch Runen ist für jeden Runer möglich der Odins Lehren folgt. Odins Runenlied wird damit zu einer Richtlinie für Runer.

Völven

Die Strophen 162, 163 und 164 beziehen sich auf Liebeszauber, Bindungs- und Fruchtbarkeitsmagie. Liebeszauber mit Hilfe von Runenmagie ist immer wieder ein beliebtes Thema. Man sollte sich aber darüber im klaren sein, dass man auch mit Runenmagie niemanden zwingen kann, gegen seine Interessen und Gefühle zu handeln. Es muss schon passen. Auch wenn Odins Runenlied in einer patriarchalischen Gesellschaft niedergeschrieben wurde: Liebes- und Bindungszauber funktioniert in beide Richtungen! Allerdings sind es traditionell meist die als Völven spezialisierten Schamaninnen, die sich damit befassen. Das Thema Sexualmagie wird, ähnlich wie schon beim Thema Heiler, nur sehr kurz und auch etwas verschlüsselt angesprochen. Es ist jedoch ein sehr umfangreicher Teil der Runenmagie und ähnlich wie Liebes-, Bindungs- und Fruchtbarkeitsmagie meist Bestandteil der Arbeit einer Völva.

Hellsehen und Losen

Auffällig ist, dass es keinen Hinweis auf das sogenannte Losen, das Befragen der Runen gibt. Diese Praxis geht auf einen Bericht des Publius Cornelius Tacitus (* um 58 n. Chr.; † um 120) in seiner ethnographische Schrift „Germania“ zurück. Tacitus beschreibt jedoch nicht explizit das Befragen der Runen bzw. das Befragen der Götter mittels Runen, sondern spricht nur von mit „gewissen Zeichen“ (notis quibusdam) bezeichneten hölzernen Stäbchen, die auf ein weißes Tuch gestreut werden. Dass es sich dabei um Runen gehandelt haben soll ist reine Spekulation.
Odin selbst, der ständig auf der Suche nach Weisheit und neuen Erkenntnissen ist, brachte für die seherische Gabe ein weiteres Opfer. In Mimirs Brunnen, einer Quelle am Fuße Yggdrasils, sind Wissen und Weisheit verborgen. Um durch einen Schluck aus diesem Brunnen die Gabe des Hellsehens zu erlangen, musste Odin eines seiner Augen als Pfand im Wasser hinterlegen. Warum hätte Odin dieses Opfer bringen sollen, wenn er auch mit Hilfe der Runen in die Zukunft hätte sehen können?

Das Losen im Sinne von Weissagen, Orakeln muss als neuzeitliche Praxis angesehen werden, die mit ernsthafter Runenarbeit nichts zu tun hat. Das Befragen der Runen nach „dem rechten Weg“, also dem richtigen Verhalten im Sinne von Odins Runenlied, ist etwas ganz anderes.

Anmerkung: Die Nummerierung der Strophen bezieht sich auf die Übersetzung von Karl Simrock von 1851.
 
 


 
 
Zurück zur Startseite
 
 
Bild „Odins Runenlied“ aus der Eddahandschrift von Ólafur Brynjúlfsson (1760) © (PD)