Grimnismâl – Die Edda, Göttersage

GrimnismâlDie Grimnismâl, das Lied von Grímnir, ist ein Götterlied der Lieder-Edda, das zur mythologischen Wissensdichtung gehört. Es besteht aus 54 Strophen im Ljóðaháttr, dem für Wissens-, Lehr- und Zauberdichtung charakteristischen Versmaß.

2. Grimnismâl.

Das Lied von Grimnir.

König Hraudung hatte zwei Söhne: der eine hieß Agnar, der andere Geirröd. Agnar war zehn Winter, Geirröd acht Winter alt. Da ruderten Beide auf einem Boot mit ihren Angeln zum Kleinfischfang. Der Wind trieb sie in die See hinaus. Sie scheiterten in dunkler Nacht an einem Strand, stiegen hinauf und fanden einen Hüttenbewohner, bei dem sie überwinterten. Die Frau pflegte Agnars, der Mann Geirröds und lehrte ihn schlauen Rath.

Im Frühjahr gab ihnen der Bauer ein Schiff und als er sie mit der Frau an den Strand begleitete, sprach er mit Geirröd allein. Sie hatten guten Wind und kamen zu dem Wohnsitz ihres Vaters. Geirröd, der vorn im Schiffe war, sprang ans Land, stieß das Schiff zurück und sprach: fahr nun hin in böser Geister Gewalt. Das Schiff trieb in die See, aber Geirröd ging hinauf in die Burg und ward da wohl empfangen. Sein Vater war eben gestorben, Geirröd ward also zum König eingesetzt und gewann große Macht.

Odhin und Frigg saßen auf Hlidskialf und überschauten die Welt. Da sprach Odhin: „Siehst du Agnar, deinen Pflegling, wie er in der Höhle mit einem Riesenweibe Kinder zeugt; aber Geirröd, mein Pflegling, ist König und beherrscht sein Land.“ Frigg sprach: „Er ist aber solch ein Neiding, daß er seine Gäste quält, weil er fürchtet es möchten zu viele kommen.“ Odhin sagte, das sei eine große Lüge; da wetteten die Beiden hierüber. Frigg sandte ihr Schmuckmädchen Fulla zu Geirröd und trug ihr auf, den König zu warnen, daß er sich vor einem Zauberer hüte, der in sein Land gekommen sei, und gab zum Wahrzeichen an, daß kein Hund so böse sei, der ihn angreifen möge.

Es war aber eine große Unwahrheit, daß König Geirröd seine Gäste so ungern speise; doch ließ er Hand an den Mann legen, den die Hunde nicht angreifen wollten. Er trug einen blauen Mantel und nannte sich Grimnir, sagte aber nicht mehr von sich, auch wenn man ihn fragte. Der König ließ ihn zur Rede peinigen und setzte ihn zwischen zwei Feuer und da saß er acht Nächte. König Geirröd hatte einen Sohn, der zehn Winter alt war und Agnar hieß nach des Königs Bruder. Agnar ging zu Grimnir, gab ihm ein volles Horn zu trinken, und sagte, der König thäte übel, daß er ihn schuldlos peinigen ließe. Grimnir trank es aus; da war das Feuer so weit gekommen, daß Grimnirs Mantel brannte. Er sprach:

1

Heiß bist du, Flamme, zuviel ist der Glut:
Laß uns scheiden, Lohe!
Schon brennt der Zipfel, zieh ich ihn gleich empor,
Feuer fängt der Mantel.

2

Acht Nächte fanden mich zwischen Feuern hier,
Daß mir Niemand Nahrung bot
Als Agnar allein; allein soll auch herschen
Geirröds Sohn über der Goten Land.

3

Heil dir, Agnar, da Heil dir erwünscht
Der Helden Herscher.
Für einen Trunk mag kein Andrer dir
Beßre Gabe bieten.

4

Heilig ist das Land, das ich liegen sehe
Den Asen nah und Alfen.
Dort in Thrudheim soll Thôr wohnen
Bis die Götter vergehen.

5

Ydalir heißt es, wo Uller hat
Den Saal sich erbaut.
Alfheim gaben dem Freyr die Götter im Anfang
Der Zeiten als Zahngebinde.

6

Die dritte Halle hebt sich, wo die heitern Götter
Den Saal mit Silber deckten.
Walaskialf heißt sie, die sich erwählte
Der As in alter Zeit.

7

Sökkwabeck heißt die vierte, kühle Flut
Überrauscht sie immer;
Odhin und Saga trinken alle Tage
Da selig aus goldnen Schalen.

8

Gladsheim heißt die fünfte, wo golden schimmert
Walhalls weite Halle:
Da kiest sich Odhin alle Tage
Vom Schwert erschlagne Männer.

9

Leicht erkennen können, die zu Odhin kommen,
Den Saal, wenn sie ihn sehen:
Aus Schäften ist das Dach gefügt und mit Schilden bedeckt,
Mit Brünnen die Bänke bestreut.

10

Leicht erkennen können, die zu Odhin kommen
Den Saal, wenn sie ihn sehen:
Ein Wolf hängt vor dem westlichen Thor,
Über ihm dreut ein Aar.

11

Thrymheim heißt die sechste, wo Thiassi hauste,
Jener mächtige Jote.
Nun bewohnt Skadi, die scheue Götterbraut,
Des Vaters alte Veste.

12

Die siebente ist Breidablick: da hat Baldur sich
Die Halle erhöht
In jener Gegend, wo der Greuel ich
Die wenigsten lauschen weiß.

13

Himinbiörg ist die achte, wo Heimdall soll
Der Weihestatt walten.
Der Wächter der Götter trinkt in wonnigem Hause
Da selig den süßen Meth.

14

Volkwang ist die neunte: da hat Freyja Gewalt
Die Sitze zu ordnen im Saal.
Der Walstatt Hälfte wählt sie täglich;
Odhin hat die andre Hälfte.

15

Glitnir ist die zehnte; auf goldnen Säulen ruht
Des Saales Silberdach.
Da thront Forseti den langen Tag
Und schlichtet allen Streit.

16

Noatun ist die eilfte: da hat Niördr
Sich den Saal erbaut.
Ohne Mein und Makel der Männerfürst
Waltet hohen Hauses.

17

Mit Gesträuch begrünt sich und hohem Grase
Widars Land Widi.
Da steigt der Sohn auf den Sattel der Mähre
Den Vater zu rächen bereit.

18

Andhrimnir läßt in Eldhrimnir
Sährimnir sieden,
Das beste Fleisch; doch erfahren Wenige,
Was die Einherier eßen.

19

Geri und Freki füttert der krieggewohnte
Herliche Heervater,
Da nur von Wein der waffenhehre
Odhin ewig lebt.

20

Hugin und Munin müßen jeden Tag
Über die Erde fliegen.
Ich fürchte, daß Hugin nicht nach Hause kehrt;
Doch sorg ich mehr um Munin.

21

Thundr ertönt, wo Thiodwitnirs
Fisch in der Flut spielt;
Des Stromes Ungestüm dünkt zu stark
Durch Walglaumir zu waten.

22

Walgrind heißt das Gitter, das auf dem Grunde steht
Heilig vor heilgen Thüren.
Alt ist das Gitter; doch ahnen Wenige
Wie sein Schloß sich schließt.

23

Fünfhundert Thüren und viermal zehn
Wähn ich in Walhall.
Achthundert Einherier ziehn aus je einer,
Wenn es dem Wolf zu wehren gilt.

24

Fünfhundert Stockwerke und viermal zehn
Weiß ich in Bilskirnirs Bau.
Von allen Häusern, die Dächer haben,
Glaub ich meines Sohns das gröste.

25

Heidrun heißt die Ziege vor Heervaters Saal,
Die an Lärads Laube zehrt.
Die Schale soll sie füllen mit schäumendem Meth;
Der Milch ermangelt sie nie.

26

Eikthyrnir heißt der Hirsch vor Heervaters Saal,
Der an Lärads Laube zehrt.
Von seinem Horngeweih tropft es nach Hwergelmir:
Davon stammen alle Ströme.

27

Sid und Wid, Sökin und Eikin, Swöll und Gunthro,
Fiörm und Fimbulthul,
Rin und Rennandi, Gipul und Göpul,
Gömul und Geirwimul.
Um die Götterwelt wälzen sich Thyn und Win,
Thöll und Höll, Grad und Gunthorin.

28

Wina heißt einer, ein anderer Wegswinn,
Ein dritter Diotnuma.
Nyt und Nöt, Nönn und Hrönn,
Slid und Hrid, Sylgr und Ylgr,
Wid und Wan, Wönd und Strönd,
Giöll und Leiptr: diese laufen den Menschen näher
Und von hier zur Hel hinab.

29

Körmt und Örmt und beide Kerlaug
Watet Thor täglich,
Wenn er reitet Gericht zu halten
Bei der Esche Yggdrasils;
Denn die Asenbrücke steht all in Lohe,
Heilige Fluten flammen.

30

Gladr und Gyllir, Gler und Skeidbrimir,
Silfrintopp und Sinir,
Gisl und Falhofnir, Gulltopp und Lettfeti:
Diese Rosse reiten die Asen
Täglich, wenn sie reiten Gericht zu halten
Bei der Esche Yggdrasils.

31

Drei Wurzeln strecken sich nach dreien Seiten
Unter der Esche Yggdrasils:
Hel wohnt unter einer, unter der andern Hrimthursen,
Aber unter der dritten Menschen.

32

Ratatöskr heißt das Eichhorn, das auf und ab rennt
An der Esche Yggdrasils:
Des Adlers Worte oben vernimmt es
Und bringt sie Nidhöggern nieder.

33

Der Hirsche sind vier, die mit krummem Halse
An der Esche Ausschüßen weiden:
Dain und Dwalin,
Duneyr und Durathror.

34

Mehr Würme liegen unter den Wurzeln der Esche
Als Einer meint der unklugen Affen.
Goin und Moin, Grafwitnirs Söhne,
Grabakr und Grafwölludr,
Ofnir und Swafnir sollen ewig
Von der Wurzeln Zweigen zehren.

35

Die Esche Yggdrasils duldet Unbill
Mehr als Menschen wißen.
Der Hirsch weidet oben, hohl wird die Seite,
Unten nagt Nidhöggr.

36

Hrist und Mist sollen das Horn mir reichen,
Skeggöld und Skögul,
Hlöck und Herfiötr, Hildur und Thrudr,
Göll und Geirölul;
Randgrid und Rathgrid und Reginleif
Schenken den Einheriern Äl.

37

Arwakr und Aswidr sollen immerdar
Schmachtend die Sonne führen.
Unter ihre Bugen bargen milde Mächte,
Die Asen, Eisenkühle.

38

Swalin heißt der Schild, der vor der Sonne steht,
Der glänzenden Gottheit.
Brandung und Berge verbrennten zumal,
Sänk er von seiner Stelle.

39

Sköll heißt der Wolf, der der scheinenden Gottheit
Folgt in die schützende Flut;
Hati der andre, Hrodwitnirs Sohn,
Eilt der Himmelsbraut voraus.

40

Aus Ymirs Fleisch ward die Erde geschaffen,
Aus dem Schweiße die See,
Aus dem Gebein die Berge, die Bäume aus dem Haar,
Aus der Hirnschale der Himmel.

41

Aus den Augenbrauen schufen gütge Asen
Midgard den Menschensöhnen;
Aber aus seinem Hirn sind alle hartgemuthen
Wolken erschaffen worden.

42

Ullers Gunst hat und aller Götter,
Wer zuerst die Lohe löscht,
Denn die Aussicht öffnet sich den Asensöhnen,
Wenn der Keßel vom Feuer kommt.

43

Iwalts Söhne gingen in Urtagen
Skidbladnir zu schaffen,
Das beste der Schiffe, für den schimmernden Freyr,
Niörds nützen Sohn.

44

Die Esche Yggdrasils ist der Bäume erster,
Skidbladnir der Schiffe,
Odhin der Asen, aller Rosse Sleipnir,
Bifröst der Brücken, Bragi der Skalden,
Habrok der Habichte, der Hunde Garm.

45

Mein Antlitz sahen nun der Sieggötter Söhne,
So wird mein Heil erwachen:
Alle Asen werden Einzug halten
Zu des Wüthrichs Saal,
Zu des Wüthrichs Mahl.

46

Ich heiße Grimr und Gangleri,
Herian und Hialmberi,
Theckr und Thridi, Thudr und Udr,
Helblindi und Har.

47

Sadr und Swipal und Sanngetal,
Herteitr und Hnikar,
Bileigr, Baleigr, Bölwerkr, Fiölnir,
Grimur und Glapswidr.

48

Sidhöttr, Sidskeggr, Siegvater, Hnikudr,
Allvater, Walvater, Atridr und Farmatyr;
Eines Namens genüge mir nie
Seit ich unter die Völker fuhr.

49

Grimnir hießen sie mich bei Geirrödr,
Bei Asmund Jalk;
Kialar schien ich, da ich Schlitten zog;
Thror dort im Thing;
Widr den Widersachern;
Oski und Omi, Jafnhar und Biflindi,
Göndlir und Harbard bei den Göttern.

50

Swidur und Swidrir hieß ich bei Söckmimir,
Als ich den alten Thursen trog,
Und Midwitnirs, des mären Unholds, Sohn
Im Einzelkampf umbrachte.

51

Toll bist du, Geirrödr, hast zuviel getrunken,
Der Meth ward dir Meister.
Viel verlorst du, meiner Liebe darbend:
Aller Einherier und Odhins Huld.

52

Viel sagt ich dir: du schlugst es in den Wind,
Die Vertrauten trogen dich.
Schon seh ich liegen meines Lieblings Schwert
Vom Blut erblindet.

53

Die schwertmüde Hülle hebt nun Yggr auf,
Da das Leben dich ließ:
Abhold sind dir die Disen, nun magst du Odhin schauen:
Komm heran, wenn du kannst.

54

Odhin heiß ich nun, Yggr hieß ich eben,
Thundr hab ich geheißen.
Wakr und Skilfingr, Wafudr und Hroptatyr,
Gautr und Jalkr bei den Göttern,
Ofnir und Swafnir: deren Ursprung weiß ich
Aller aus mir allein.

König Geirröd saß und hatte das Schwert auf den Knieen halb aus der Scheide gezogen. Als er aber vernahm, daß Odhin gekommen sei, sprang er auf und wollte ihn aus den Feuern führen. Da glitt ihm das Schwert aus den Händen, der Griff nach unten gekehrt. Der König strauchelte und durch das Schwert, das ihm entgegenstand, fand er den Tod. Da verschwand Odhin und Agnar war da König lange Zeit.

 
 


 
 
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Bild „Die Edda Grimnismâl“: Die drei Jungfrauen an der Quelle des Schicksals, Zeichnung von Ludwig Pietsch, 1865. © (PD)